Die 50er und 60er Jahre haben filmtechnisch gesehen wahre Wunderwerke hervorgebracht. Il Grido von Antonioni, den ich gestern (6.11.2019) sah, ist eins davon. Habe mich gleich gewundert, wieso ich ausgerechnet diesen Antonioni noch nicht gekannt hatte. Habe doch in meinen 20ern alles verschlungen, was schwarzweiss und bedrohlich anregend fürs Gemüt gewesen war. Bergmann und Antonioni, die bemerkenswerterweise beide im selben Jahr kurz nacheinander starben, ich glaube es war im Jahre 2012 gewesen, hatten es mir zu jener Zeit besonders angetan. Menschen in schwarzweiss mit sich und der Umwelt im Zwiespalt, umgeben von der Schönheit des Zerbrechlichen. Bei Il Grido, zu Deutsch der Schrei, ging es um einen Mann mit Kind, der von einer Frau zur anderen wechselt, weil er es bei keiner längere Zeit aushalten kann. Das Kind, eine Tochter von ca. sechs Jahren stört ihn, den Vater, immerzu und die Unklarheit, die mich beim Schauen zu einem im Hinterkopf stattfindenden Versuch einer Sortierung der zwischenmenschlichen Verhältnisse förmlich zwang, fand kein befriedigendes Ende, denn, es blieb immerzu unklar, wer eigentlich von den auftretenden Frauen nun die Mutter des Kindes ist. Und trotz der flirrenden Unklarheit diesbezüglich, regte das Ganze meine Phantasie an und ich empfand damals dann plötzlich auch eigene Unklarheiten bezüglich meiner Abstammung, sicher auch, weil ich dachte, dass es mich als Künstlerin interessanter machen würde nicht genau zu wissen, wer in meinem Leben die wahren Elternteile seien. Auch wenn der Vater so ein ganz anderer Typ gewesen ist, als mein, dann doch beim Blick auf die alten Fotografien, offensichtlicher, war mir das Setting samt der Dynamik des „Störfaktor Kind“ sehr bekannt gewesen. Und das Gefühl, das nach diesem Film fast selbstverständlich in mir aufkommen musste, denn nur allein darum ging es ja in jenem Film, nämlich darum, das ein Kind aus vergangenen Beziehungen ein Alptraum für einen Mann sein kann, der auf der Suche nach neuen Lebensgefährtinnen ist, war dann ein Punkt der Wehmut auslöste. Die im Film dann immer wiederkehrende Situation, dass es einfach nicht klappte mit der Liebe, lässt Aldo dann schlussendlich am Leben scheitern. Antonionis ungeschönte rauhe sowie schlammige Welt (wo findet man so eine heutzutage eigentlich noch? Sie fehlt mir, denn Spuren auf schlammiger Erde sind viel einprägsamer als spurlose Hinterlassenschaften auf Versiegelungen) in Kombination mit herrlich aussehenden trotz Verzweiflungen die niemand haben möchte, verveversprühenden Menschen, ist und bleibt ein Sinnstift, denn Sinn macht alles, auch oder gerade im Schlamm des Lebens. obwohl das Ende von Il Grido nicht schlimmer sein könnte, fühlte ich mich durch diesen Film damals getröstet. Vielleicht, weil alles so „einfach“ darin ist und keine Fragen (bis auf die nach der Mutter) offen bleiben. Aldo findet keine Frau. Die, die er liebt, ist und bleibt unerreichbar. Dass die Tochter ausgerechnet in der Unerreichbaren dann schließlich ihre Wunschmutter findet (ob es die tatsächliche Mutter ist, bleibt wie gesagt offen), treibt ihn dann schließlich in die Konsequenz. Der Versuch einer Korrektur am Gewesenen wird dann auf allen Ebenen hinfällig. Italien, hier alles andere als ein Sehnsuchtsort. Herzlichen Dank an den italienischen Neorealismus.
© Bettie I. Alfred, 7.11.2019
Schlagwörter: Alleinerziehender Vater, Antonioni, der Schrei, El Grido, Ingmar Bergman, italienischer Neorealismus, Korrektur am Gewesenen