Finde in einer Kiste eine Fotografie. Erinnere mich sofort an die Situation. Man sieht einen Blick schräg aus einem Fenster auf die Ecke eines Balkons, der zu der Wohnung, in der ich als Kind einmal gelebt hatte, gehörte. Das Ganze spielt in einem Haus, das Teil einer, in den 80er Jahren gebauten, Siedlung war. Auf dem olivgrün verkleideten Balkon steht, ich sah ihr wenig ausdrucksstarkes Profil, auf einem Klapptisch eine sehr helle, kränklich wirkende Katze, mit den Vorderfüßen auf dem Balkongeländer und streckt ihren Oberkörper samt Kopf sehnsüchtig nach vorne, den Blick in die Tiefe gerichtet, so als überlege sie, wie sie es bewerkstelligen könnte, dort unten (das ganze spielt im zweiten Stockwerk), unbeschadet in der Freiheit anzukommen. Es ist ein grauer Frühlingsabend, im Hintergrund ist die andere Strassenseite mit zwei Häuserblöcken zu sehen, die die Seite des Hauses in dem alles stattfindet, exakt spiegelt. Weit hinten über den Häusern sind die Kronen einiger riesiger Bäume zu sehen. Kahle Kronen, die sicher bald kleine hellgrüne Blätter bekommen würden. Der Fotograf war ich. Unbemerkt machte ich aus dem Küchenfenster, das direkt neben dem Balkon gelegen war, dieses trübe Foto. Ich hatte mir damals sehnlichst eine Katze gewünscht, nun lebte sie eingesperrt in unserer Neubauwohnung und schoß auf den Balkon, sobald ich die Türe öffnete. Ich mochte das Tier von Anfang an nicht. Es sollte ein kleiner dunkler Tiger sein, war dann aber in der Annonce falsch beschrieben. Hell war es, fast rosa und auch nicht klein, sondern bereits ausgewachsen. Es sass, als wir es abholen gingen, in einer Wohnung, die sich ebenfalls in einem Haus unserer Siedlung befunden hatte, in einem verwohnten dunklen Zimmer, in das uns die ebenfalls verwohnt wirkende Frau, damals geführt hatte, ganz oben auf einer Art Ablage und starrte mich an. Es war hässlich und ich enttäuscht. Der Vater fragte jedoch nicht nach und somit wurde das Tier umgehend gegriffen und in die mitgebrachte Katzentasche gestopft und nach hause getragen. Die Frau beim Abschied sichtlich erfreut es los zu sein. Ich hatte den Vater, der lange auf keinen Fall eine Katze haben wollte, da er Katzen nicht niedlich fand, sondern unangenehm, so lange genervt, bis er nachgegeben hatte. Er kam vom Land und im Haus der Kindheit lagen sie überall herum mit ihren verklebten Staupeaugen und der Geruch ihres Urins war, so er, nirgendwo zu überriechen. Für mich war das anders, ich wollte mich anschmiegen an eine und sie sollte mich wärmen. Das Tier war dann ein grosses Unglück. Es urinierte immer unter die Badewanne anstatt in seine Katzentoilette, war also nicht stubenrein und alle hassten es von Tag zu Tag mehr und mich dazu, weil ich der Grund war dafür, das es da war. Niemand hatte jedoch den Mumm es wieder wegzugeben. Und es blieb dann noch zehn Jahre bei uns, pinkelte auch die neue Wohnung voll und man stritt sich unentwegt wegen ihm und es drohten immerzu Nervenzusammenbrüche. Eines Tages vergass ich das Tier auf dem Balkon. Schloss die Tür und seit dem war es verschwunden gewesen.
Als ich es damals, zehn Jahre früher schon, so da auf dem Geländer hab stehen sehen, da hatte ich mir ganz tief gewünscht, dass es springen würde, in seine wohlverdiente Freiheit. Es hatte jedoch nicht den Mumm gehabt.
Wie ich das Foto nun ansehe, muss ich schlucken. Diese tiefe Sehnsucht nach der Freiheit. Das war auch meine Sehnsucht damals gewesen. Deshalb hatte ich diesen Moment unbedingt festhalten wollen.
© Bettie I. Alfred, 30.9.2021