Des Nachts

Die ganze Nacht schwirrte mir das Lied „Tränen lügen nicht“ im Kopf umher. Ich kann mich nicht erinnern es in den letzten 30 Jahren irgendwo gehört zu haben. Es muss aus dem Erinnerungsarchiv hochgekrochen sein, das von den Zeiten handelt, als ich noch in einem Dorf am Rhein lebte und der Vater zu den Genossen in den „Adler“ ging. Es gab nur eine Kneipe im Dorf und somit gingen alle dort hinein, egal ob Professor oder Maurer. Die einzige Frau stand, wie üblich damals, hinterm Tresen. Wir wohnten zwei kleine Steinhäuser weiter und als ich einmal nicht schlafen konnte schlurfte ich in meinem Schlafanzug zum Adler und fragte dort zögerlich in die Herrenrunde: „Papa, wann kommst du denn endlich nach hause?“ Grosses Gelächter folgte. Nun als dieser Schlager, den ich des Nachts unbedingt umdichten wollte, da ich plötzlich den Gedanken nicht mehr los wurde, daß Tränen sehr wohl lügen können, in meinem Kopf ertönte, hatte ich einen wahren Geistesblitz und ich schrieb den neuen Text ins fast volle Notizbuch: Tränen lügen schlicht. Und, wie es des Nachts ja oft ist, bildete ich mir in diesem Moment ein, daß diese Umdichtung eine wahre Meisterleistung sei und schlief endlich, schon das Morgengrauen ahnend, friedlich ein. Als der Bagger mich dann früh am nächsten Morgen weckte, stand die Tristesse des neuen Tages raumfüllend vor mir. Ich fühlte zudem, deutlicher als je zuvor, die Lücke im Mund, ein riesiges Loch, wo man mir vor Jahren den wichtigsten Kauzahn gezogen hatte. Seit dem wird alles schief an mir, der Gang, die Säule, der Hals, alles. Man kaut ja unweigerlich ausweichend, lediglich noch mit der einen voll bezahnten Seite (da ich eine Freundin von hartem Brot bin, führt dieses heftige einseitige Gekaue natürlich zur Schieflage des Ganzen). Nur ein Mensch wie dieser Vogel kann mit Zahnfehlbesetzungen glänzen, doch tat er es von Anfang an und ist somit daran gewöhnt. Meine Lücke ist relativ neu und man sieht sie nicht, sodaß ich durch sie keine nennenswerte Mehreigenschaft bekomme, auch keinen Spitznamen aufgestempelt bekomme und somit nichts nennenswert Neues an meinem Wesen entsteht. Und jeder Unbennenbare ist und bleibt ja, zumindest nach Beckett, der Letzte. ….Ich versuchte einen Bogen vom Anfang zum Ende des Beitrags zu spannen, ich finde er ist mißlungen. Der Tag soll schnell umgehen, er ist kein guter, wie man ihn in der Begrüssungsformel: Guten Tag! ja wünscht.

Bettie I. Alfred, 7.12.21


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