Der Idiot der Familie 1-5

Das Handy ist eine irrsinnige Erfindung. Das immerzu Erreichbarsein macht das Leben nicht unbedingt einfacher. Natürlich erfahre ich schnell und zuverlässig, ob jemand beim Besteigen des Berges in die Lava fiel oder sich den Knöchel verstaute. Doch was nützt es dies zu wissen, wenn ich nicht helfen kann, weil ich in einem anderen Land auf einem Schreibstuhl sitze und sinniere. In einem sogenannten Schenkebuchladen nehme ich Sartres „Der Idiot der Familie 5“ mit. Der Philosoph befasst sich darin (der Band umfasst allein schon 700 Seiten) über insgesamt 3000 Seiten mit Flauberts Wahnsinn. Ich erfahre viel Neues über beide, Flaubert und Sartre. Lerne das Wort Rückbildungsinfantilismus und dass Flaubert epileptiforme Krisen schüttelten. Zudem lebte er in einer Art Dauerzerstreuung und interessierte sich nicht für Aktualitäten. Als ihn seine Leser als Realisten bezeichneten, schrie er angeblich wütend auf. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Sartre wurmt förmlich das Thema des Irrsinns, der zum Schreiben führt. Er findet das „Krankheitswerk“, das bei F. angeblich auf einer erlebten Neurose basierte, sei keine Kunst, sondern lediglich peinlich. Ich bin entsetzt über Sartres Engstirnigkeit. Die Aussage, dass ein „Irrer“ kein Künstler sein kann, ist doch mehr als wüst. Ein Wahnsinniger sei unkonstruktiv, so er. Dabei vergisst er wohl, das auch „Normale“ „wahnsinnig“ unkonstruktive Literatur (was immer das genau sein soll) hervorbringen. Natürlich gibt es Künste die auch mich in ihrer Irrheit erschrecken und die ich als destruktiv erlebe, aber deshalb jemandem das Künstlersein absprechen? Wer Kunst in irre und nichtirre einteilt ist wohl seinem eigenen Problem der Intoleranz aufgesessen. Jeder, der sich mit Abgründen, und besonders mit den eigenen, befasst, und das muss Sartre jawohl bemerkt und getan haben, weiss wie viel Kraft das Nicht- oder Wenigverständliche in der Kunst haben kann. Oft haben die Grenzgänger, so meine Erfahrung, sogar eine ganz besondere Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die Angst davor auffällig zu werden oder als das zu gelten, macht gerade dem „Normalen“ ja oft schwer zu schaffen. Sowieso hat einer der „Prinzhorn“ ablehnt, wohl ein Bild vom Künstler an sich, das für mich nach elitärem „Gewichtel“ klingt. Nicht nur, weil ich selbst oft nicht so genau weiss, ob mich längst ein Wahnsinn überfallen hat, finde ich diese Degradierung von Künstlern, die ihr verkwastes Innenleben als Antrieb offenbaren, wie Flaubert es anscheinend tat, eine mehr als unmenschliche Herangehensweise um einen Dichter einzuordnen. Abgesehen davon, dass ich weitaus mehr Menschen zu kennen meine, die sich selbst für „gesund“ halten und es definitiv nicht sind, als Menschen mit „Meisen“, die sich auf Biegen und Brechen (eine wunderbare Bezeichnung) als „normal“ betitelt sehen müssen, um überhaupt existieren zu können. „Flaubert hatte nichts zu sagen, weil er sich weigerte seine Inspiration aus dem Erlebten, anstatt aus sich selbst zu gewinnen.“ Dieser Ausspruch Sartres klingt so, als erlebe ein Mensch, der lieber „nur“ in sich hinein hört weniger Wer/t/k/volles, als einer der in Eis badet und auf Haien reitet. Nach 30 Seiten von 3000 bin ich schon am Höhepunkt meiner Abwehrhaltung. Mal schauen wie weit ich es noch schaffe im Werk „Der Idiot der Familie 1-5“)

12.5.22, © Bettie I. Alfred


%d Bloggern gefällt das: