MEERKATZER – ODER DER KRAN ÜBERS HAUS (Hörspiel)
Zum Hörspiel in der SWR2 Mediathek
Kritik Cosima Lutz,
epd medien Nr. 9 · 03.03.2023

Etwas Gewaltiges
„Meerkatzer – Oder der Kran übers Haus“, ein
schriftstellerisches Sehnsuchtshörspiel, Regie, Buch
und Sounddesign: Bettie I. Alfred (SWR2, 19.2.23,
18.20-20 Uhr und in der ARD-Audiothek)
Kann man sich in einen Menschen verlieben, den
man äußerlich nicht sonderlich attraktiv findet, dessen
Gedanken aber umso mehr? Natürlich kann man das,
und es gibt längst ein Wort dafür: sapiosexuell. Klingt
nicht gerade poetisch, und schon deshalb fällt es
auch in „Meerkatzer – Oder der Kran übers Haus“
kein einziges Mal. Es wäre ein übergriffiger, weil
kategorisierender Fremdkörper in diesem an merkwürdig
vertrauten Verschrobenheiten reichen Hörspiel von
Bettie I. Alfred.
Meerkatzer ist ein kleiner, hutzeliger Greis, ein leicht
ins Irreale verschobenes Alltagsfabelwesen, von denen
es im realen Leben wahrscheinlich viele gibt, was
aber meist nicht auffällt, weil man nur selten durch
seine Stadt geht und dabei wirklich schaut. Wie aus
einer Erzählung Ludwig Tiecks oder E. T. A. Hoffmanns,
ein wenig auch wie eine nicht ganz diesseitige Figur
aus „Alice im Wunderland“, steht der von der Welt
vergessene und die Welt vergessende Schriftsteller eines
lauen Sonntagabends plötzlich an einem Springbrunnen
vor der Erzählerin, einer Autorin mit dem einsamen
Namen Loni, und ihrer seit 30 Jahren nicht gesehenen
Freundin Jell, einer Bratschistin.
Das heißt, so plötzlich passiert das gar nicht, denn
eine angedeutete Verwandlung findet statt, weil es in
der Macht der literarischen Montage liegt: Ein junger
Stadtfuchs taucht zunächst auf, ganz nah sein Gesicht,
und kaum hat man beim Zuhören einmal geblinzelt,
ist er auf einmal da: Meerkatzer. Mit einem Stocken
beginnt sein kurzer, aber folgenreicher Redefluss, als
hätte er lange, zu lange mit niemandem mehr gere-
det: „Nacht. . . “, sagt er mehrmals und deutet auf die
Vögel im Park, „…igall“, dockt Loni sofort an, während
Jell, die Strenge, den luftigen Poetendialog mit einem
„Das ist eine Amsel“ auf den Boden zurückholt. Loni
bemerkt, „dass dieser Mann mehr Fühlfläche hatte, als
wir alle zusammen, und er zudem mit seinen Worten,
zwar mit heftigen Pausen dazwischen, poetische Kunst-
werke schaffen konnte, und alles schien sich in jenem
Augenblick in mir ganz unverhofft zu regenerieren“.
Bettie I. Alfred versteht es, die unterschiedlichen Spra-
chenergien kunstvoll nicht nur aufeinander loszulassen,
sondern auch miteinander zu verschränken zu etwas
Drittem, irritierend Kraftvollem. Während Jell „eine
Person der Ruhe und Besonnenheit“ sei, beschreibt sich
Loni als dramatische Natur, die immer wieder in eine
Gefühlswelt falle, aus der sie nicht mehr herauskomme.
Alfred findet in ihrer staunenden Nichtbewertung fast
an Robert Walser erinnernde Formulierungen: Jell sei
von „einer Art gefühlstechnischer Häuslichkeit, die ihr
das Bratschespielen überhaupt erst ermöglichte“. Die
Bratsche ist, offenbar wie ihre Spielerin, ein „warmes,
voll und ganz zu sich stehendes Instrument“, Loni hin-
gegen voller unzuverlässig gestimmter Brüchigkeiten
und Zweifel. Und wie es manchmal so ist im Leben
eines durchlässigen, kreativen Menschen, gewinnt eine
zufällige Begegnung wie die mit Meerkatzer die befruch-
tende Wucht eines Gewitterregens auf ausgedörrtem
Grund.
Mit ihrer Kontrastgefährtin an der Seite macht sich
Loni auf die Suche nach dem Unbekannten. Der nämlich
ist so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war,
hatte allerdings ein weiteres Treffen an eben jenem
Springbrunnen in Aussicht gestellt. Wo er aber nicht
mehr anzutreffen sein wird. Später wird er sich an diese
Ankündigung, wie an so vieles, nicht mehr erinnern.
Oder will er nicht? Wovor scheut er? Welche Geister
plagen ihn?
Zum Glück besteht die Autorin bei aller realistischen
Verankerung auf der literarischen Gemachtheit der
Geschichte und pfeift auf Psychologismen wie „Ver-
drängung“ oder „Trauma“. „Ich liebe das, wenn etwas
nur im Kopf stattfindet“, sagt Loni einmal. Sie findet
heraus, dass Meerkatzer vor vielen Jahren ein Buch
veröffentlicht hat, einen Roman über eine unglückliche
Kindheit, es wurde verrissen und vergessen. Sie besorgt
sich das Buch und verschlingt es an einem Abend. Sie
will, sie muss mit dem Autor über dieses Buch sprechen;
das muss ihn doch freuen! Was gibt es Schöneres, als
verstanden zu werden?
Diesem Müssen und Wollen werden natürlich alsbald
Grenzen gesetzt. Jell, die akzeptiert, in eine Art Co-
Abhängigkeit gezogen worden zu sein, assistiert Loni
detektivisch. Die beiden Frauen beginnen, den Mann
anzurufen und in seiner Wohnung aufzusuchen. Doch
außer Nachbarn, die sagen, „der spinnt“, gibt es dort
zunächst nicht viel zu entdecken. Lebt er überhaupt
noch?
Einmal findet Loni einen Zettel von ihm: „Bitte gehen
Sie. Ich zertrete mein Werk allabendlich.“ Als Verschro-
benheitskollegin befürchtet Loni, dass sie das scheue
Dichterwesen verschreckt haben könnte durch ihre
Nachforschungen. Dennoch: Die Begegnung führt zu
einer Art Besessenheit. Sie liebe Herrn Meerkatzer, stellt
Loni irgendwann so verblüfft wie kapitulierend fest.
Natürlich hat diese schmerzhafte Euphorie viel mit dem
eigenen Schaffen zu tun, mit unausgesprochenen Wün-
schen und Befürchtungen. „Bist du in seine Verwirrtheit
verliebt?“, fragt die kluge Freundin. „Vielleicht ist es
das.“
Spannend ist, wie Bettie I. Alfred jenseits üblicher
Verliebtheitsdramaturgien die Perspektiven wechselt
und der inneren Welt Meerkatzers ebenso viel Raum
gibt wie den Nöten Lonis. Hallend, wie in Erinnerung an
eine ferne oder nie gewesene Lesung, spricht der Dichter:
„Der Tag benötigt Ratschlüsse, der Abend kümmert sich
indessen um Gleichnisse und Offenbarungen.“ Oder:
„Auf der Flucht vor sich selbst begreift man sich am
besten.“ Je länger man ihm zuhört, desto näher rückt
die Frage heran: Wie ist es oder wie wird es sich eines
Tages anfühlen, „ein Mensch am Ende“ zu sein, wie Loni
ihn beschreibt, „am Ende seines Schaffens, und doch
vergeht er nicht“?
Nicht nur die immer schmerzlichere Sehnsucht Lonis
nach Austausch mit Meerkatzer wird zum literarischen
Ereignis, sondern auch und gerade die wie aus einem
fernen Tunnel zwischen Hier und Damals gesprochenen
inneren Monologe des Dichters, in dem ebenfalls etwas
Gewaltiges aufgebrochen ist. Womöglich ist er ein Alter
Ego der Erzählerin Loni selbst.
Bettie I. Alfred hat die von ihr selbst gesprochene
Erzählerinnenstimme so geschnitten, dass die kurzen
Atempausen zwischen den Sätzen fehlen. Dadurch ent-
steht aber nicht der Eindruck von Atemlosigkeit, sondern
der einer Kaskade, die die Sätze nicht überschäumend
sprudeln lässt, sondern sie staffelt in nüchterner Folge-
richtigkeit.
Cosima Lutz
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Kritik MEERKATZER im Mediendienst Kna von Jochen Meissner
Jan Christ und sein Park:


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+ Gedanken eines Testhörers:
Meerkatzer, ein Stück Romantik in der von destruktiven Kräften zerrissenen modernen Welt, aber nicht als kitschige Nostalgie, sondern als widerständige Spiritualität, welche den Persönlichkeitskern eines starken und von seiner Sendung beseelten Menschen in all seinen Schwächen und seiner Gebrochenheit zur Geltung bringt. Dies geschieht in einer äußerst behutsamen, mit Fingespitzengefühl noch viel zu schwach gekennzeichneten Annäherung, welche sich stets bewusst ist, dass der fragile Charakter des Protagonisten einen Umgang wie mit einem rohen Ei erfordert. Das Spiel ist bestimmt von Handlungsarmut bis auf den dramatischen (und doch verhaltenen) Schrei Meerkatzers auf dem Kran über dem Haus nach seiner geliebten Elisabeth, von der offen bleibt, wer oder was sie jemals real für ihn war – am ehesten so etwas wie die „idée fixe“ in Hector Berlioz Symphonie Phantastique. Für den Mangel an Handlung und spektakulären Effekten im gesamten Verlauf der langen 88 Minuten, die das Stück dauert, wird der immer mehr gefesselte und in eine ganz eigene Welt entführte Hörer aber entschädigt durch die wunderbare Ausschöpfung der Seelenlagen der vor allem innerlich beteiligten Menschen und bezaubert von ihrer sprachlichen Umsetzung durch die Autorin selbst und ihre teils prominenten, teils aus dem menschlichen Nahraum stammenden Mitakteur*innen.
Karl Niedermeyer
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Sendetermin: Sonntag, 19. 2. 2023 im SWR 2
An einem Sonntagabend am Springbrunnen im Gewitterpark begegnen
Loni und ihre nach 30 Jahren wiedergefundene Freundin zunächst
einem jungen Fuchs und dann einem kleinen, wirren Greis. Dieser stellt
sich ihnen als Schriftsteller Mak Meerkatzer vor. Sie genießt
die Situation als sei sie frisch verliebt, wenn auch rein platonisch. Sie liest
seinen Erstling und ersehnt eine weitere Begegnung mit dem lebhaften Schriftsteller, doch die Bank am Springbrunnen bleibt zunächst leer.
MEERKATZER – ODER DER KRAN ÜBERS HAUS
EIN SCHRIFTSTELLERISCHES SEHNSUCHTSHÖRSPIEL
VON BETTIE I. ALFRED
mit der Autorin, Mariana Kunica, Jens Harzer, Axel Grube, Leopold von Verschuer, Cordula Heiland und Sigrid Bischof
„Die ganze Geschichte begann an jenem Sonntagabend, wo ich mit der neugefundenen Bratschenfreundin, die den schönen Namen Jell trug und die ich ganze 30 Jahre nicht mehr gesehen hatte, wo ich also mit ihr an einem besonderen Platz saß, er war wie Jell, ein sanfter und doch so gewaltiger Platz. Sie war auffallend hübsch und ich auffallend, nun ja, nicht hässlich, aber doch anders, eckig und ungestüm. Eine freie Bank lud ein und wir saßen friedlich und doch angespannt und atmeten stockend aber fröhlich die laue Maienluft ein. Beim Kleingespräch über Urlaub und dass man keinen machen müsse, wenn es einem nicht läge, schaute mich plötzlich mit seiner zarten Kinderschnauze ein Fuchs an. Für einen Moment in die ganz gerade kurze Runde geblickt, verschwand er wieder und kaum hatten wir uns wieder beruhigt, stand er da: Der kleine wirrhaarige alte aber jung wirkende Greis. Er zeigte ins Gezwitschere der hohen Ahornbäume und schien beim Zögern etwas in Worte fassen zu wollen. Dann kam eine ‚Nacht‘ aus seinem Mund. Und ich vervollständigte mit einem ‚igall‘. Nein, entfuhr es Jell viel zu streng, das sei keine Nachtigall, sondern eine Amsel. Und ich war ganz irritiert, denn ich bemerkte, dass dieser Mann mehr Fühlfläche hatte, als wir alle zusammen, und er zudem mit seinen Worten, zwar mit heftigen Pausen dazwischen, poetische Kunstwerke schaffen konnte und alles schien sich in jenem Augenblick in mir ganz unverhofft zu regenerieren.“
Eine Begegnung wird zum Abenteuer… Abenteuer dabei nicht im üblichen Sinne, alles zerfließt und doch nicht. Es bleibt jeder bei sich und doch nicht… ein Ende ohne Anfang. Es geht um Poesie und das Gefühl zu einem Menschen, der sie schafft. Ein Mensch am Ende. Am Ende seines Schaffens und doch vergeht er nicht. Die zwei Frauen immer da und doch sprachlos im Sprechzwang gefangen.
Bettie I. Alfred